Bosnien-Herzegowina
02.07.
Frühstück: Würstchen mit Quark, Toast und Kefir. Kaffee kostet extra; dann die zweite echte Grenze. Galt zwischen Ungarn und Serbien eher das Motto: „Wenn wir Beamten schon mal hier sind, dann lassen wir uns eben kurz mal die Ausweise zeigen“, geht es hier schon wesentlich „klassischer“ zu. Alle Papiere wurden verlangt. Und die Grüne Karte. Jaaa, die ist unterm Sitz, und da sind 15 kg Gepäck draufgeschnallt... Nix da, Grüne Karte zeigen! Also alles abschnallen, kramen, vorzeigen, zusammenpacken. 5 Minuten Packstress für 5 Sekunden Vorzeigen. Doch alles ging sehr freundschaftlich ab. Kein Vergleich zum viel parodierten DDR-Grenzer: „Gänsefleisch ämol den Goffrraum offmachn!“ Stattdessen bekam man ein herzliches „Dobrodošli!“ auf den Weg gegeben.
Potočari und Srebrenica sind etwa ein Dutzend Kilometer von der Grenzstadt Bratunac entfernt. Ein alter UN-Kontrollpunkt des "Dutchbat", ob noch echt oder nachträglich hergerichtet, steht unweit des islamischen Friedhofs und Mahnmals, wo die in den Tagen um den 11.07.1995 über 8000 in und um Srebrenica ermordeten moslemischen Jungen ab 12 und Männer bis 77 begraben wurden. Auf einem riesigen Marmorrondell sind ihre Namen eingemeißelt. Die bosnische Fahne weht halbmast. In der Stadt selbst kann man die Fabrikhalle sehen, in der das niederländische UN-Truppenkontingent den Bosniern vor den Tschetniks hilf- und planlos Schutz und Unterschlupf gewähren sollte und sie doch an ihre Peiniger ausgeliefert hatte.
An einem Kaffeehaus lehnt eine reichlich mitgenommene 600er Bandit. Der Eigentümer ist ein etwa 70jähriger Einheimischer, der nach Blick auf mein Nummernschild sagt: „Deutsch? Sehr gut!“ und erzählt, dass er in Deutschland gelebt hatte, seine Tochter noch dort wohnt und dort ein Autohaus leitet und vieles weitere aus seinem Familienleben. Über den Krieg haben wir nicht gesprochen.
Das Straßenschildersystem ist leider unterirdisch. Es gibt in Srebrenica einen einzigen vernünftigen Wegweiser. Doch dann, an der nächsten großen Kreuzung war es das mit Hinweisen. Auch keine Angabe der Straßennummern, keine der Entfernungen. Meine Bosnienkarte ist irgendwo spurlos abhandengekommen und Ersatz nirgends zu erstehen. Also der Nase nach, mit einem ADAC-Infoblatt 1:1.100.000 als Notbehelf. Liebliche Morgensonne, schöne Landschaft, dichte Wälder, Berge, Täler Serpentinen, null Verkehr. Die tief entspannten 50km enden... wieder in Bratunac! Jedoch – Glück im Unglück: Die Straßen stehen quasi unter Wasser. Hier muss es mörderisch gekübelt haben! Und meinereiner hat nichts davon mitgekriegt und den lauen Morgen genossen.
Bei Milići werden die Pfützen rostbraun und der Fluß Jadar ebenfalls - dort in den Bergen lagern große Bauxitvorkommen, die auch ordentlich gefördert werden. Bald ist die Kombi durch Pfützenfahrt und LKW-Gespritze ebenso rötlich und es knirscht zwischen den Zähnen.
In Vlasnica gibt es endlich eine brauchbare Karte an einer Tanke zu kaufen. In Bosnien bezahlt man mit KM, und so wird das meistens auch im Alltag ausgesprochen, „ka-emm“. Die volle Bezeichnung lautet „Konvertible Mark“, doch Mark sagt kaum jemand. Das klingt verdächtig nach aufgepfropfter Währung. 1 KM = 1 DM = 0,51 €. Und doch trägt sie zur Einheit Bosniens bei, denn die KM ist sowohl in der bosnisch-kroatischen Entität wie die Republika Srpska gesetzliches Zahlungsmittel.
Auf der 19 (laut Karte, nicht laut Schilder) geht es durch neblige Bergwälder und weite Hochebenen nach Sarajevo, märchenhaft. Kurz vor der Hauptstadt klart es auf, es wird brütend schwül. Der Verkehr nimmt zu, die Müdigkeit auch. Doch die Burg da oben am Stadtrand, die will betrachtet werden. Die Fahrt endet an der dritten Spitzkehre. Das Mopped rutscht weg und kracht auf die Piste, das eine Bein unter dem Bock eingeklemmt. So liege ich erstmal die eine oder andere Sekunde auf dem Asphalt und denke, äh, nichts. Dann mit dem anderen Bein das Mopped samt Gepäck etwas angehoben und ich bin wieder frei. Danke, Herr Frey, dank Deinem Daytonastiefel ist dem Fuß nichts passiert. Mopped aufgerichtet, wollte losgefahren – Schaltung schaltet nicht. Das ist schon schlechter. Bordwerkzeug raus, Schalthebel abgeschraubt, etwas grade geklopft, angeschraubt. Alles in Butter. Domo aregato, Soichiro Honda-San, dass ihr die besten Motorräder der Welt baut!
Ein Zeltplatz soll sich in Flughafennähe befinden, doch auf dem Weg dahin lockt ein „Sobe – Rooms – Zimmer – 10€“. In unmittelbarer Nähe ein kleiner Lebensmittelladen und eine Trolleybushaltestelle. Perfekt. Leichtes Abendbrot, Sonnenuntergang über der Stadt, der Muezzin liefert die passende akustische Untermalung. Très romantique.
03.07.
Zweiter Day Off. Nein, nichts ist romantisch am nicht enden wollenden Gesinge der Muezzin, früh, zu Sonnenaufgang um 4h30. Dank Bushaltestelle vor der Tür gestaltet sich der Beginn des Stadtspaziergangs entspannt. Am Trg Avstrii, dem Österreichischen Platz, ist Endstation, direkt im Zentrum. Unweit davon die Lateinische Brücke, in derer Nähe 1914 das habsburgischen Thronfolgerpaar von einem serbischen "Aktivisten", wie solche Leute heutzutage heißen, erschossen wurde - was Anlass für WK1 wurde. Die Fußgängerzone der Altstadt ist der Touristenmagnet schlechthin. Abrupt wechselt k.u.k-Architektur zu Bauwerken im osmanischen Stil. Auf der östlichen, der osmanischen, Seite gibt es viele Moscheen, eine hat sogar eine Uhr, die tatsächlich nach dem Mond geht. Ein islamisches Kulturzentrum nebst Museum und Bibliothek könnte gegen Zahlung besichtigt werden. Das fällt aus. Entweder sind religiöse Einrichtungen generell kostenfrei zu betreten, oder eben gar nicht. Zumal ganz stolz eine Tafel die Finanzierung des Objekts durch Saudi-Arabien verkündet. Nördlich der Altstadt gibt es die älteste orthodoxe Kirche Bosniens. Auf der westlichen, der k.u.k-Seite – viel Katholizismus. Ja, es ist folkloristisch gesehen, multireligiös und bunt, dennoch: Das harmonische Nebeneinander darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese Ideologien, die um den „wahren Glauben“, welchen davon auch immer, kreisen, im Handumdrehen zu Brandbeschleunigern werden.
Zuletzt spielte das 1991-1995 ja ebenfalls eine gewaltige Rolle. Die Kriegsspuren sind noch überall zu sehen, vor allem am Jugosoz-Neubau-Stadtrand, wo die Häuser sowohl teils bereits top saniert sind, teils noch die Einschläge und die Einschüsse mit sich herumtragen. Es ist unbegreiflich: Gestern noch Nachbarn, und Freunde, heute Todfeinde. Gestern noch eine moderne Wohnung mit Telefon, fließend Warmwasser und Strom, heute fensterlose Betonskelette, Schützenstellungen der „Snajper“. Und morgen, wenn der Blutrausch vorbei ist, großes Aufräumen, große Fragezeichen. Übermorgen dann ist alles Geschichte. Auf Sarajevos Straßen und Parkplätzen sieht man Autos mit serbischen Nummernschildern. Ihre Scheiben sind intakt, die Reifen sind nicht zerstochen.
Und natürlich gibt es Museen und Ausstellungen über den Krieg im allgemeinen, die vierjährige Belagerung Sarajevos im besonderen, mit Zeitzeugenberichten, Dokumenten, Fotos, Kurz- und Dokumentarfilmen. Sehr empfehlenswert und nachdenklich stimmend.
Abends lädt der Vermieter zu einem derbe einfachen, aber leckeren Abendessen ein: auf Olivenöl gebratene Zwiebeln mit gedünstetem Paprika.
04.07.
Der Muezzin auch hat diesmal keinen Erfolg, aufstehen um halb fünf is nich. Dafür Punkt 8 Abfahrt, Richtung Mostar, doch zuvor eine Ehrenrunde durch Sarajevo gedreht, bis hoch zum alten zerschossenen Fernsehturm. Die ehemalige „Sniper Alley“ erstickt im Stau des Berufsverkehrs.
Hinter Sarajevo beginnt auch gleich wieder die serbische Entität. Keine 20 km auf deren Territorium werde ich auch schon von einem Polizisten und seinem nichtuniformierten „Assistenten“ angehalten. Da vorn war eine 30er Zone, Sie sind 57 gefahren. Oh, interessant, aber gibt’s denn auch beispielsweise einen Radarbeleg? Nein, der kommt erst in ein paar Tagen (aha, soso!), aber laut Liste (tatsächlich vorhanden, sehr offiziell) wären so und so viel zu zahlen und den Führerschein ziehen wir auch gleich ein. In ein paar Tagen werden Sie dann vor ein Verkehrsgericht gestellt. Aber Sie verstehen sehr gut unsere Sprache? Russisch? Na, dann könnten wir mal schauen, hm, ist schon etwas unübersichtlich die Stelle dort, jaja... (Danach folgt etwas beidseitiger Small Talk, wie schön die Landschaft ist, und wie nett die Leute, und das eine CB500 keine Wurst vom Teller zieht.) Und seien Sie etwas aufmerksamer nächstes Mal, bis Foča können Sie von uns aus 200 Sachen heizen, aber in Foča, da stehen die Kollegen. Nur, Sie verstehen, ganz ohne Strafe kommen Sie nicht davon. Verstehe ich bestens. Am Ende bin ich „nur“ mein eingeplantes Geld für die nächste Tankfüllung losgeworden.
Hände geschüttelt, freundlich verabschiedet und nicht via Foča, sondern über die kleinen, auf der Karte gelb markierten Straßen, abgedreht. 50-60 km sollte es entspannt auf der 433 vorangehen, und bis Kalinovik lief es auch prächtig. Am Ortseingang steht eingezäunt ein Heldenbildnis des Sohnes der Stadt Ratko Mladić. Hinter Kalinovik ist der Asphalt zu Ende. Vorwärts immer, rückwärts nimmer. Der Schotter ist weniger tückisch, kein Waschbrett und relativ eben. Keine Menschenseele, wenn man ein paar Landwirte außen vor lässt. Einer von ihnen fuhr einen Traktor in komplett volkstümlicher Tracht, mit langem Bart und Mütze. Doch ehe die Canon G12 gefunden, eingeschaltet und hochgefahren war, verschwand das Fotomotiv schon querfeldein tuckernd hinter den Hügeln.
Das Camping Aganovac in Blagaj vor den Toren Mostars ist klein und steht direkt an diesem Fluß. Der Chef spricht nur englisch mit den Kunden, niemals wird aus seinem Munde ein „Molim!“ auf ein von Touristen gesagtes „Hvala!“ kommen. Wie ein Feldwebel kommandiert er die Neuankömmlinge, egal, ob Radfahrer mit Zelt oder Caravanpiloten auf ihre Plätze. Überall auf dem Zeltplatz hängen Schilder, Dos & Don'ts. Nach dem Einchecken erhält der neu Angekommene einen Packen Papier: Umgebungskarte, alle WiFi-Codes der Umgebung (falls der Campingrouter ausfallen sollte), eine abgehefteten Stoß Din-A4-Blätter, in denen allerlei wissenswertes über Blogaj, Mostar und Umgebung steht, allerlei beachtenswertes auf dem Camping („I do this because I don't want to answer every 5 minutes the same questions over and over again“ - völlig logisch!) sowie Gastro-Empfehlungen nebst Rabattgutscheinen.
An der Rezeption gibt es eine Batterie von Steckdosen, damit man sein „Gadgets“ laden kann. Nach einem ersten Befremden bin ich völlig überzeugt von seinem System und entwickle veritablen Respekt, wie er seinen Laden im Griff hat! Und darüber hinaus hat er in der 8° kalten Buna eine große Tüte voller Bier deponiert – help yourself, it's for free. Habe ich auch, aber nur eins, fairerweise deckte ich den Bedarf dann doch im Dorfladen.
„Because of my name I was supposed to be a muslim – but I am not! Religion is opium for the masses, and religion drives here a lot, rather everything!“ sagte er und erinnerte uns daran, dass in Westeuropa, bei allen alten und erst recht neuen Problemen, das Gemeinwesen ja noch funktioniere, was im BiH nicht einmal ansatzweise der Fall sei. Das komplizierteste Staatssystem Europas evoziere nichts als Stillstand, Korruption und Vorteilsnahme, das wäre nun das Ergebnis des Zerfalls von Jugoslawien.
In Abendsonne steigt über dem Wasser Nebel auf.
05.07.
Das Highlight in Blagaj ist ein türkischer Tempel der Derwische aus dem 16. Jh., eines religiösen Ordens, dessen Member sich besonders intensiv und spirituell der Preisung Allahs verschrieben hatten. Das Refugium steht direkt an einer steilen Felswand, in einer Höhle entspringt der Fluss Buna, der lebhaft unter dieser Felswand hervor strömt. Touristen aus aller Herren Länder, man sieht Burkas und Niqabs wie Tanktops und knappe Shorts. Für Trägerinnen letzterer gibt es Wickelröcke am Eingang, außerdem muss man die Schuhe ausziehen. Das Derwischhaus zwar gehört immer noch dem Orden, aber es ist heute eher ein kultureller denn religiöser Ort, und so zahle ich den Eintritt gerne.
Kurze Rundreise gemäß der ausgehändigten DIN-A4-Blätter. Altstadt von Mostar mit Brücke – sehenswert, erwartungsgemäß Touristenmagnet. Unweit der Brücke – das türkische Pendant zum deutschen Goetheinstitut, jedoch werden Neugierige werden gebeten, von einem Besuch abzusehen. Die Innenstadt ist eine einzige Baustelle, es wird wohl gerade alles saniert und repariert. Kriegsschäden sind aber auch hier überall noch zu sehen. Allerdings lagen sich hier die Bosnier nicht mit den Serben in den Haaren, sondern mit den Kroaten, die ursprünglich ebenfalls eine eigene Entität, das kroatische Herceg-Bosna anstrebten. Und so ist auch das unweit gelegene Međugorje eine andere Welt: katholisch bis ins Mark, ein Wallfahrtsort für die Jungfrau Maria, die da 1981 irgendwelchen „Sehern“ erschienen sein soll.
Die Rückfahrt geht über Kravica, dort gibt es einen schönen Wasserfall, den man komplett sehen kann und darin rumplanschen, wenn man Eintritt bezahlt, oder nur zur Hälfte sehen ohne zu planschen, wenn man sich den Eintritt klemmt. Die Bergstraßen zweiter Ordnung zurück nach Mostar sind eine Wucht.
Ausklang des Abends zurück auf dem Zeltplatz mit einer Gruppe tschechischer Biker, die stoisch ein Video ihrer GoPros nach dem anderen ins Netz stellen und dabei ihr Bier nicht vergessen.
06.07.
3 Uhr, es wird kurz hell und laut, dann nass: Ein Gewitter, völlig überraschend. Wetteronline sagt für Montenegro Nord und Ost für mindestens eine lange Woche „Land unter“ voraus, für West strahlende Sonne. Dennoch Kurs auf Zentral-Montenegro gesetzt, via Nikšić nach Podgorica (einst Titograd), vielleicht wird es ja nicht so schlimm. Die letzte große Stadt in Bosnien, serbische Entität, heißt Trebinje und zeichnet sich durch eine unverschämte Relaxtheit aus. In den Straßencafés sitzen nicht nur Kerle vor ihren Bieren, sondern meistenteils hübsche Mädels vor üppigen Eisbechern. Die Altstadt befindet hinter mittelalterlichen Stadtmauern, die der Fluß Trebišnica umspült. Das Adria-Feeling ist mit beiden Händen zu greifen – und welch ein Unterschied zu der etwas gereizten Atmosphäre sonst in der RepSrp.
Die Straße nach Montenegro, auch als Crna Gora bekannt, windet sich hoch in die Berge, und die Vegetation ändert sich – es fallen die Zypressen auf, die wie Riesenbleistifte überall in der Geografie herumstehen, währen die bekannten Laub- und Nadelgehölze des „Nordens“ nahezu verschwunden sind.